Mietrückstand
BGH, Urteil vom 5. Oktober 2022 - VIII ZR 307/21 - LG Berlin,
AG Lichtenberg
a) Ein innerhalb der Schonfrist des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB erfolgter Ausgleich des Mietrückstands bzw. eine entsprechende Verpflichtung
einer öffentlichen Stelle hat lediglich Folgen für die auf § 543 Abs. 1, 2 Satz 1
Nr. 3 BGB gestützte fristlose, nicht jedoch für eine aufgrund desselben Mietrückstands hilfsweise auf § 573 Abs. 1, 2 Nr. 1 BGB gestützte ordentliche Kündigung (Bestätigung von Senatsurteil vom 13. Okt. 2021 - VIII ZR 91/20,
NZM 2022, 49 Rn. 29 ff. mwN).
b) Diese (beschränkte) Wirkung des Nachholrechts des Mieters entspricht dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers, so dass der an Gesetz und Recht gebundene Richter (Art. 20 Abs. 3 GG) diese Entscheidung nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen darf, die so im Gesetzgebungsverfahren (bisher) nicht erreichbar war (im Anschluss an BVerfGE 69, 315, 372; 82, 6, 12 f.; Bestätigung von Senatsurteil vom 13. Oktober 2021 - VIII ZR 91/20, NZM 2022, 49 Rn. 87).
Tatbestand:
- Der Beklagte mietete mit Vertrag vom 19. März 1984 von der Rechtsvorgängerin der Klägerin eine (damalige) Dienstwohnung der N.
(N. ) in Berlin. Die monatl. Nettomiete betrug bis Juni 2013 307,20 €
und wurde im Wege eines Vergleichs zwischen den Mietvertragsparteien um 55 €
ab dem Monat nach Anbringung eines Balkons an der Wohnung erhöht.
- Der Beklagte zahlte ab dem Monat März 2012 lediglich eine um 20 %
(61,44 €) geminderte Miete, da er der Ansicht war, infolge einer Verschattung der
Wohnung nach einem Balkonanbau sowie wegen eines entfallenen Spielplatzes
sei die Miete um jeweils 10 % gemindert. Die im Rahmen des vorgenannten Vergleichs vereinbarte Mieterhöhung entrichtete er nach dem Anbau des Balkons an
seiner Wohnung ab August 2013 nicht.
- Im Jahr 2017 erhob die Klägerin, die aufgrund ihres Eigentumserwerbs im
Jahr 2014 in das Mietverhältnis eingetreten ist, Klage auf Zahlung der Mietrückstände. Diese hatte in erster Instanz (im Wesentlichen) Erfolg. Der Beklagte
zahlte jedoch (auch) hiernach weiterhin eine geminderte Miete. Auf die damalige
Berufung des Beklagten hin wurde das vorgenannte Urteil teilweise abgeändert,
da er aufgrund des weggefallenen Spielplatzes in der Zeit von April bis Oktober
des jeweiligen Jahres nur eine monatlich um 28,81 € geminderte Miete zu zahlen
habe.
- Wegen des bis dahin aufgelaufenen Mietrückstands erklärte die Klägerin
mit Schreiben vom 26. April 2018 die fristlose, hilfsweise die ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses. Nach Zustellung der vorliegenden auf Räumung und
Herausgabe gerichteten Klage - mit welcher die Klägerin erneut eine fristlose,
hilfsweise ordentliche Kündigung wegen des Zahlungsverzugs erklärte - hat der
Beklagte die rückständige Miete durch eine in Höhe von 5.421,15 € erfolgte (teilweise) Freigabe eines zuvor hinterlegten Betrags sowie durch eine am 25. Februar 2019 vorgenommene Zahlung (1.387,57 €) beglichen.
- Das AG hat der Räumungsklage aufgrund der hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung des Mietverhältnisses vom 26. April 2018
stattgegeben. Auf die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten hat das
LG das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Räumungsklage abgewiesen.
- Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt die Klägerin insoweit die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
- Die Revision hat Erfolg.
- Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit für
das Revisionsverfahren von Interesse, im Wesentlichen ausgeführt:
- Der Klägerin stehe ein Räumungs- und Herausgabeanspruch aus § 546
Abs. 1, § 985 BGB nicht zu. Das Mietverhältnis sei durch die streitgegenständlichen Kündigungen nicht beendet worden.
- Näherer Ausführungen zur formalen Wirksamkeit der Kündigungen bedürfte es nicht, da diese nach Maßgabe von § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB unwirksam
geworden seien. Alle Wirkungen der Kündigungen seien mit der Schonfristzahlung des Beklagten vom 25. Februar 2019 geheilt worden.
- Die Kammer verkenne nicht, dass der Bundesgerichtshof seit seiner Entscheidung vom 16. Feb. 2005 (VIII ZR 6/04) an der gegenteiligen Auffassung
festhalte, wonach eine Erstreckung der Wirkung der Vorschrift des § 569 Abs. 3
Nr. 2 BGB über die Schonfristzahlung auf eine ordentliche Kündigung nicht möglich sei. Die Kammer teile diese Einschätzung jedoch nach erneuter eingehender
Überprüfung nicht. Bei Anwendung der allgemeinen Auslegungsgrundsätze erweise sich stattdessen (auch) für die ordentliche Kündigung die unmittelbare Anwendung des in § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB enthaltenen Normbefehls als gerechtfertigt. Die Kammer habe sich mit der seit 2005 veröffentlichten Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs zu den Wirkungen einer Schonfristzahlung bereits ausführlich in ihrer Entscheidung vom 30. März 2020 (66 S 293/19, WuM 2020,
281) auseinandergesetzt. Die umfassende Wirkung eines nach den Maßstäben
von § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB ordnungsgemäßen und rechtzeitigen Ausgleichs von
Zahlungsrückständen auf alle Kündigungen, die mit dem später ausgeglichenen
Zahlungsrückstand begründet worden seien, ergebe sich unverändert aus den in
der vorgenannten Entscheidung dargelegten Überlegungen zur Auslegung und
zu den Grundsätzen der Rechtsanwendung.
- Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Mit der vom
Berufungsgericht gegebenen Begründung kann ein auf die im Schreiben vom
26. Apr. 2018 und in der Klageschrift vom 23. Nov. 2018 hilfsweise erklärten ordentlichen Kündigungen gestützter Anspruch der Klägerin gegen den Beklagten auf Räumung und Herausgabe der von diesem angemieteten Wohnung
nach § 546 Abs. 1, § 985 BGB nicht verneint werden. Entgegen der Auffassung
des Berufungsgerichts sind diese auf die ausgebliebenen Mietzahlungen des Beklagten gestützten Kündigungen nicht infolge der Schonfristzahlung (§ 569
Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB) unwirksam geworden. Eine solche Zahlung hat (lediglich) Folgen für die fristlose Kündigung (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, § 569 Abs. 3
Nr. 2 BGB); eine auf den zum Kündigungszeitpunkt bestehenden Mietrückstand
zugleich gestützte ordentliche Kündigung nach § 573 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1
BGB - deren Voraussetzungen im Übrigen (vgl. hierzu Senatsurteil vom 10. Okt. 2012 - VIII ZR 107/12, BGHZ 195, 64 Rn. 18 ff.) zugunsten der Klägerin im
Revisionsverfahren mangels entsprechender Feststellungen des Berufungsgerichts zu unterstellen sind - bleibt von der Schonfristzahlung unberührt. Die entsprechende Regelung des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB ist hierauf nicht unmittelbar - und (wovon wohl auch das Berufungsgericht ausgeht) auch nicht analog -
anwendbar.
- 1. Die seitens des Berufungsgerichts zur Begründung seiner gegenteiligen
Ansicht herangezogenen Gesichtspunkte sind identisch mit denjenigen in dessen
Urteil vom 30. März 2020 (LG Berlin [Zivilkammer 66], WuM 2020, 281). Dieses
hat der Senat mit Urteil vom 13. Okt. 2021 (VIII ZR 91/20, NZM 2022, 49
Rn. 29 ff. mwN) - nach Erlass des Berufungsurteils - aufgehoben, so dass im vorliegenden Fall zur näheren Begründung auf diese Ausführungen umfassend Bezug genommen wird.
- Dem dortigen (vgl. Senatsurteil vom 13. Okt. 2021 - VIII ZR 91/20,
aaO Rn. 82) sowie dem hiesigen Verfahren liegen jeweils Fallgestaltungen zu
Grunde, in denen der Mieter nicht aufgrund einer Zahlungsunfähigkeit, sondern
unter Berufung auf Mängel der Mietsache die Miete nicht in der geschuldeten
Höhe entrichtet hat, so dass insbesondere die Voraussetzungen für ein (rechtzeitiges) Einschreiten der Sozialbehörden nicht vorliegen (vgl. zur diesbezüglichen Pflicht auch im Falle einer Schonfristzahlung LSG NRW, Beschluss vom
13. Januar 2021 - L 7 AS 1874/20 B ER, juris Rn. 18).
- 2. Das Berufungsgericht hat in einer - nach Erlass des vorgenannten Senatsurteils verkündeten - Entscheidung (LG Berlin, Urteil vom 1. Juli 2022 - 66 S
200/21, juris) weiterhin an seiner gegenteiligen Ansicht zur Wirkung einer Schonfristzahlung festgehalten. Die darin enthaltenen, im Wesentlichen wiederholenden Ausführungen des Berufungsgerichts geben dem Senat keinen Anlass zu
einer anderen Beurteilung.
- a) Lediglich soweit sich das Berufungsgericht (LG Berlin, Urteil vom
1. Juli 2022 - 66 S 200/21, aaO Rn. 57 ff.) mit der historischen Beurteilung des Normverständnisses des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB, insbesondere mit der
jüngeren Gesetzgebungsgeschichte befasst (vgl. hierzu im Einzelnen Senatsurteil vom 13. Okt. 2021 - VIII ZR 91/20, NZM 2022, 49 Rn. 84 ff.), sieht der
Senat Anlass zu ergänzenden Ausführungen. Das Berufungsgericht weist diesbezüglich zwar im rechtlichen Ausgangspunkt noch zutreffend darauf hin, dass
anerkanntermaßen ein Schweigen des Gesetzgebers zur bisherigen Rechtsprechung der Zivilgerichte nicht ohne Weiteres als ausreichender objektiver Anhaltspunkt für einen Bestätigungswillen angesehen werden kann (vgl. BVerfGE 78,
20, 25; BVerfG, NJW 1998, 3557, 3558; siehe auch BGH, Beschluss vom 15. Juli
2016 - GSSt 1/16, BGHSt 61, 221 Rn. 48 [zu § 252 StPO]).
- Das Berufungsgericht verkennt jedoch, dass der Senat zur Beurteilung des Willens des Gesetzgebers nicht auf dessen bloßes Schweigen im Rahmen jüngerer Gesetzgebungsvorhaben abgestellt hat. Denn der Gesetzgeber hat die derzeitige Normanwendungspraxis des § 569 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 BGB nach der langjährigen und ständigen Senatsrechtsprechung, welcher die weit überwiegende Zahl der Instanzgerichte (vgl. etwa KG, Urteil vom 24. Juli 2008 - 8 U 26/08, juris Rn. 19; LG Berlin, Urteil vom 27. März 2019 - 65 S 223/18, juris Rn. 27 ff.; LG Kassel, WuM 2018, 435, 436; LG Berlin, Urteil vom 23. März 2010 - 63 S 432/09, juris Rn. 5) sowie die ganz herrschende Meinung in der Literatur folgt (vgl. etwa Staudinger/Rolfs, BGB, Neubearb. 2021, § 573 Rn. 51; Staudinger/V. Emmerich, BGB, Neubearb. 2021, § 569 Rn. 80; BeckOGK-BGB/ Geib, Stand: 1. Juli 2022, § 573 Rn. 47; BeckOGK-BGB/Mehle, Stand: 1. April 2022, § 543 Rn. 231; BeckOK-BGB/Wiederhold, Stand: 1. August 2022, § 543 Rn. 46; BeckOK-BGB/Wöstmann, Stand: 1. Aug. 2022, § 569 Rn. 18; BeckOK-BGB/Hannappel, Stand: 1. Aug. 2022, § 573 Rn. 29; BeckOK-Mietrecht/Siegmund, Stand: 1. Aug. 2022, § 573 BGB Rn. 23; Schmidt-Futterer/ Streyl, Mietrecht, 15. Aufl., § 569 BGB Rn. 74, 93; Blank/Börstinghaus in Schmidt-Futterer, Mietrecht, 15. Aufl., § 573 BGB Rn. 37; Grüneberg/ 17 - 8 - Weidenkaff, BGB, 81. Aufl., § 569 Rn. 16; aA Blank/Börstinghaus in Blank/ Börstinghaus, Miete, 6. Aufl., § 569 Rn. 75; MünchKommBGB/Häublein, 8. Aufl., § 573 Rn. 70 ff. [jeweils für eine analoge Anwendung von § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB]), nicht lediglich (passiv) unbeanstandet gelassen.
- Er hat vielmehr Gesetzesvorhaben, welche der Norm einen weitergehenden Anwendungsbereich geben und zu einer Erstreckung der Schonfristzahlung
auf die ordentliche Kündigung führen sollten, nicht weiter verfolgt (vgl. Senatsurteil vom 13. Okt. 2021 - VIII ZR 91/20, aaO Rn. 85 f.) sowie mehrfach Gesetzesanträge mit diesem Inhalt ausdrücklich abgelehnt (vgl. hierzu Senatsurteil
vom 13. Okt. 2021 - VIII ZR 91/20, aaO Rn. 86; vgl. auch BT-Plenarprotokoll
19/236, S. 30739, zur Ablehnung des Gesetzentwurfs BT-Drucks. 19/20589).
Diese Umstände sprechen im Ergebnis eindeutig dafür, dass der Gesetzgeber
das aufgezeigte Normverständnis als weiterhin geltende Rechtspraxis ansieht
(vgl. auch den Koalitionsvertrag der derzeitigen Bundesregierung [Seite 92], wonach zur Beseitigung der Ursachen drohender Wohnungslosigkeit die Regierung
"insbesondere dort wo Schonfristzahlungen dem Weiterführen des Mietverhältnisses entgegenstehen, evaluieren und entgegensteuern" will) und - ungeachtet
etwaiger Gründe hierfür (vgl. dazu LG Berlin, Urteil vom 1. Juli 2022 - 66 S
200/21, aaO Rn. 65) - an diesem Rechtszustand (jedenfalls derzeit) noch keine
Änderungen vornehmen möchte.
- b) Dieses Verhalten des Gesetzgebers in der jüngeren Vergangenheit entspricht dessen durchgehend gleichbleibendem historischen Verständnis zu einem lediglich eingeschränkten Anwendungsbereich der Regelung zur Schonfristzahlung (vgl. hierzu im Einzelnen Senatsurteil vom 13. Okt. 2021 - VIII ZR
91/20, aaO Rn. 64 ff.), so dass die Rechtsprechung an diese - mehrfach zum
Ausdruck gebrachte - gesetzgeberische Entscheidung gebunden ist (Art. 20
Abs. 3 GG; vgl. Senatsurteil vom 13. Okt. 2021 - VIII ZR 91/20, aaO Rn. 87; so auch Blank/Börstinghaus in Schmidt-Futterer, Mietrecht, 15. Aufl., § 573
Rn. 37; Artz, Wortprotokoll der 118. Sitzung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz am 9. Dez. 2020, Protokoll-Nr. 19/118, S. 9).
- Nach alledem kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben; es ist daher aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die nicht entscheidungsreife Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Dabei macht der Senat von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch.
- Im Hinblick auf die seitens des Berufungsgerichts in der mündlichen Verhandlung erteilten Hinweise zu künftigen "umfangreiche(n) Prüfungen und mögliche(n) Beweisaufnahmen zu den Voraussetzungen von § 574 BGB" weist der
Senat vorsorglich darauf hin, dass die fristgerechte Schonfristzahlung nichts daran ändert, dass nach § 574 Abs. 1 Satz 2 BGB ein Fortsetzungsanspruch bei
Vorliegen eines zur fristlosen Kündigung berechtigenden Zahlungsverzugs nicht
besteht (vgl. Senatsurteil vom 1. Juli 2020 - VIII ZR 323/18, NJW-RR 2020, 956
Rn. 28 ff.).
- Das Berufungsgericht wird sich im weiteren Verfahren - falls es das Mietverhältnis nicht bereits aufgrund der wegen Zahlungsverzugs ausgesprochenen ordentlichen Kündigungen als beendet ansehen sollte - auch mit der im Schriftsatz vom 25. Sept. 2019 weiter ausgesprochenen fristlosen, hilfsweise ordentlich erklärten Kündigung der Klägerin zu befassen haben, welche diese nicht auf einen Zahlungsverzug, sondern auf einen "zumindest versuchten Prozessbetrug" (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 12. Okt. 2021 - VIII ZR 91/20, NJW-RR 2022, 86 Rn. 40 mwN) des Beklagten gestützt und zu der das Berufungsgericht - worauf die Revision zutreffend verweist - bisher noch keine Feststellungen getroffen hat.